Die lange Reise eines (europäischen) Kleidungsstücks

Nehmen wir ein Kleidungsstück, das, sagen wir, im Designbüro eines Modelabels in Stockholm entworfen wird. Bis es zum Beispiel in einer Nähfabrik in China Gestalt annimmt, hat der Stoff, aus dem es ist, fast einmal die Welt umrundet: er ist vom Baumwollbauern in Indien oder Afrika, den USA oder Südamerika zur Baumwollspinnerei, sagen wir in die Türkei, dann zum Weben nach Taiwan, zum Färben und Ausrüsten nach Bangladesch und vielleicht noch zur Veredelung nach Bulgarien gebracht worden, ehe er sich in China mit dem schwedischen Entwurf verbinden konnte. Wobei die Futterstoffe, Knöpfe und Reißverschlüsse vermutlich in der Schweiz entworfen wurden und ähnlich lange Produktionswege hinter sich haben. Anschließend macht das gute Stück vielleicht noch einmal Station im Süden oder Osten Europas, wo es den letzten Schliff erhält und mit den Insignien des Modelabels ausgerüstet wird. Erst dann wird es auf dessen Filialen verteilt oder landet im Versandzentrum eines Online-Riesen, von wo es wiederum über Hunderte oder gar Tausende Kilometer an den/die EndverbraucherIn geschickt wird. Damit nicht genug: Zu 50% gefällt das Stück dem/der BestellerIn nicht und wird wieder zurückgeschickt. Solche Retouren landen wieder zu 50% im Müll und werden verbrannt, die restlichen 50% aber kommen in den Altkleiderhandel, wovon der Großteil (98%) erneut auf Reisen geschickt wird: nach Ruanda oder Kamerun zum Beispiel, wo es dann die lokale Textilproduktion zerstört. Kurzum: Bis das Kleidungsstück am Ladentisch in Berlin oder als Paket zu Hause einlangt, hat es mehr als 60.000 km zurückgelegt. Wird es retourniert und tritt die Reise nach Afrika an, kommen weitere 6000 km dazu. Die Pakete, die im Online-Handel allein in Deutschland versandt werden, reichen fast zum Mond und wieder zurück. Die Ironie: Ein Kleidungsstück, das im Lauf seiner Produktion und des Wegs zu seinem ersten Träger oder seiner Trägerin fast 1 ½ mal den Erdball umrundet hat, ist immer noch bei weitem billiger als eines, das vor Ort erzeugt wurde.