Ich war einmal

Kleider erzählen ihre Geschichte

Unser wachsender Bestand an gefundenen, aufgespürten oder sonstwie auf uns gekommenen Kleidungsstücken ist uns eine ständige Inspiration und Herausforderung. An ihnen schärfen wir unsere Reparaturmethoden. Gelungene Wachküssversuche werden als (erwerbbare) Beispiele – zusammen mit ihrer Geschichte – in der Laden-Werkstatt präsentiert. So entsteht nebenbei eine eigenwillige Sozialgeschichte der Mode.


1900er • Einfach Spitze!

ICH WAR EINMAL … ein weißer Spitzenunterrock im Besitz einer ehrgeizigen jungen Dame, die nach der letzten Jahrhundertwende in Hamburg lebte. Diese soll mich mit Vorliebe bei ihren Besuchen in der aufstrebenden Künstlerkolonie von Worpswede getragen haben.

Viele Jahre später gelangte ich in die Hände ihrer Enkelin, die mich lange in Ehren gehalten und immer wieder notdürftig ausgebessert hat. Dort hat mich vor einiger Zeit Sarah erspäht, mich ihr abgeluchst und in das Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« gebracht. Hier hat mich dann Katrin liebevoll … WACHGEKÜSST


1920er • Am Panjiayuan Flohmarkt in Peking

ICH WAR EINMAL … ein gelb kariertes Männerhemd und ein Trachtenrock aus China. Der eine Teil von mir gehörte dem Fachdisponenten einer Zeitarbeitsfirma. Der hat mich ganz schön durchgeschwitzt, bei all dem Fingerspitzengefühl, das er in diesem Job braucht. Ist ja auch nicht so einfach, die Kundenbedürfnisse mit der Qualifikation der Bewerber zusammenzubringen!

Ich war ziemlich bald am Ende und wurde von seiner Frau in einen Altkleidercontainer geworfen. Von dort hat mich dann Katrin rausgefischt … Der andere Teil, gehörte der 15-jährigen Baoquin, die mich, nachdem sie einen Guerilla-Kämpfer aus der Truppe Maos kennenlernte, am Dachboden versteckte. Ihre Enkelin entdeckte mich am Ende der Kulturrevolution und verkaufte mich auf einem Pekinger Markt an eine Wiener Designerin. Diese hat mich dann in das Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« gebracht. Dort hat uns Katrin miteinander vermählt und … WACHGEKÜSST.


1940er • Die Tretnähmaschine

ICH WAR EINMAL … ein weißes Hochzeitskleid am Körper einer jungen Frau aus dem Jahr 1945. Der 2. Weltkrieg war gerade vorbei, der Schwarzmarkt am Brandenburger Tor blühte, dort ergatterte sie meinen weißen Satin und eine Tretnähmaschine – im Tausch gegen ein Familienerbstück, welches der Großvater über die Kriegswirren gerettet hatte.

Ich hing dann leider zwei Jahre im Schrank, da ihr zukünftiger Mann in russische Kriegsgefangenschaft geriet. Nur manchmal holte mich meine Trägerin heraus und drückte mich wehmütig an sich. Als ich dann endlich meinen großen Tag erleben durfte, war ich überglücklich, alle bestaunten und liebten mich. Danach verschwand ich für viele Jahre, eingemottet in einem Kleidersack. Dort entdeckte mich die Enkelin und ermöglichte mir ein zweites Leben als Partykleid, kombiniert mit krassem Nietengürtel und Sneakers. So landete ich schließlich ziemlich abgerumpelt am Flohmarkt. Dort hat mich dann Lisa erstanden und in ihrem Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« WACHGEKÜSST


1960er • Die leckeren Baumkuchen

ICH WAR EINMAL … ein grauer Plisseerock mit dunkelrotem Blütenmuster. Entstanden bin ich Anfang der 1960er-Jahre, gegen Ende der glorreichen Nachkriegsphase der »Berliner Konfektion«. Jedenfalls lag bei meiner Erzeugung schon der Mauerbau in der Luft und damit auch das endgültige Ende dieser Berliner Modeära, die den Kudamm noch einmal so richtig brummen ließ.*

Meine Trägerin, die kesse Sekretärin einer Speditionsfirma erwarb mich 1961, bei einem der vielen Abverkäufe aus den zusammenbrechenden Modehäusern. Allerdings naschte sie bei ihren vielen Rendevous im Café Möhring zu oft von dem leckeren Baumkuchen, und so wurde ich ihr allmählich zu eng. Da sie stets hoffte, mich eines Tages wieder tragen zu können, räumte sie mir einen schönen Platz in ihrem Schrank ein, wo sie mich gelegentlich schmachtend bestaunte. Weg kam ich da erst wieder, als mich ihre Enkelin ins Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« brachte, um mich gegen ein Kiss-the-Moth-Set zu tauschen. Dort fiel ich glücklicherweise Anett ins Auge. Sie wollte mich partout WACHKÜSSEN und stellte mich dazu auf den Kopf. So führe ich nun ein zweites abenteuerliches Leben als Blouson. * Bis 1961 waren in Berlin zwischen Halensee und Gedächtniskirche zeitweilig bis zu 350 Modefirmen tätig, die über 60.000 Beschäftigten Arbeit gaben und weit über Berlin hinaus Furore machten. Mit dem Bau der Mauer fand dieses kleine Wirtschaftswunder ein jähes Ende, 7500 Beschäftigte aus dem Ostteil der Stadt wurden von ihrem Arbeitsplatz getrennt und die Textilindustrie wanderte gegen Westen ab.


1960er • Überwinder des Kalten Krieges

ICH WAR EINMAL … eine graue Hose aus dem Hause Angelo Litrico. Mein Schöpfer wurde damit berühmt, dass er 1957, bei einer Exportoffensive der italienischen Modeindustrie in Russland, Nikita Chruschtschow einen Mantel als Geschenk übergeben ließ. Chruschtschow war so zufrieden mit ihm, dass er eine vollständige Garderobe von Litrico für seine denkwürdige Reise in die USA im September 1959 in Auftrag gab.

Einige Jahre später gehörte auch John F. Kennedy zu Angelos Stammkunden. So feierte man ihn schließlich als den Designer, der den »Kalten Krieg« überwunden hat. Nun ja, ich würde sagen, er war eher ein schlauer Geschäftsmann. Mein erster Besitzer war ein älterer Herr aus Orvieto, der jeden Tag mit seinen Freunden am Hauptplatz Boccia spielte und nie müde wurde, über italienische Politik zu diskutieren.Irgendwann passte ich da einfach nicht mehr ins Bild und er ließ mich links liegen. Nach vielen Jahren in einer Truhe wurde ich schließlich bei eBay ersteigert und nach Berlin, in die Stadt der Wiedervereinigung, geholt. Bestimmungsort: ein Veränderungsatelier namens »Bis es mir vom Leibe fällt«. Dort hat mich Esther zum praktischen Accessoire für das andere Geschlecht WACHGEKÜSST und den Rest von mir als Stoff in ein eng anliegendes Etuikleid einfließen lassen. Eine ganz schöne Verwandlung, was?


1960er • Untreue in der Partnerschaft

ICH WAR EINMAL … ein geometrisch gemustertes Kleid aus den 60er Jahren und ein traditioneller chinesischer Rock. Der eine Teil von mir wurde mit Vorliebe von einer jungen Detektivin bei ihren Ermittlungen getragen, Hauptgebiet: Untreue in der Partnerschaft. Sie war sehr erfolgreich und hat im Laufe der Jahre 433 Fälle bearbeitet und in 89% davon den Seitensprungpartner entlarvt.

Genäht wurde ich von der Mutter meiner Trägerin, nach einem aus Paris importierten Schnitt aus der BURDA. Meine Trägerin hat im Laufe der Jahre viele Kilos zugenommen und mich mit großem Bedauern in ein Second-Hand-Geschäft gebracht, dort hat mich Lisa erstanden … Der andere Teil wurde in einem Dorf in Nordchina von einer Frau in vielen Arbeitsstunden hergestellt. Sie hat jede meiner Falten mit der Hand genäht und mich dann unter Dampf in Form gepresst. Autsch! Danach wurde ich von ihr auf vielen Festen getragen – bis der »große Sprung« kam. Da musste sie mich weggeben. Die Kulturrevolution habe ich in einer Truhe in Beijing verschlafen, dort hat mich eine Künstlerin entdeckt und auf dem Panjiayuan Flohmarkt an Jasmin verkauft. So kam ich in das Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« und wurde dort zusammen mit meiner anderen Hälfte WACHGEKÜSST


1970er bis 2000er • Die Geheimnisse meiner Vergangenheit

ICH WAR EINMAL … sechs sehr verschiedene Herrenhosen. Die Braune erinnert sich naturgemäß an gar nichts. Die Hell­graue hat noch immer die Klänge von Sade im Ohr, zu denen sich ihr Trä­ger an diverse Partne­rinnen zu drücken pflegte. Die Brom­beerne ist ein ganz sen­si­bles Stöff­chen, das wohl nur die Beine eines jun­gen Lords um­schmei­chelt haben kann. Sie fühlt sich bis heute etwas fehl am Platz in mir – was kein Wun­der ist, ist sie doch die ein­zig maß­ge­fer­tig­te. Die Dunkel­rote ist da aus anderem Holz geschnitzt.

Sie bildet sich eine Menge auf ihren angeblichen früheren Besitzer, einen gutgebauten Fitnesstrainer, ein. Die Anthrazitene dagegen scheint sich irgendwie zu schämen: Kann gut sein, dass sie einem knackigen Jeansträger als Kleidung für offizielle Anlässe dienen musste. Und die mit den kleinen, rot-schwarz-weißen Karos? Die verdankt sich zwar ziemlich sicher feingliedrigen farbigen Jungmädchenhänden, aber Scham ist ihr fremd. Sie begleitete nämlich einen Versicherungsvertreter durchs Leben, als der noch von Tür zu Tür ging. Wir alle wurden von Lisa auf diversen Flohmärkten aufgestöbert und ins Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« gebracht. Dort hat man uns dann WACHGEKÜSST und miteinander vermählt – oder umgekehrt. Auf diese Weise neu zum Leben erweckt, bin ich nun bereit, mit allen Geheimnissen meiner Vergangenheit um einen modernen Frauenkörper zu fliegen.


1970er • Aus der Vogue des Ostens

ICH WAR EINMAL … ein zart­kariertes, mit blass­blauen Borten besetztes Sommer­kleid einer jungen Literatur­studentin aus Leipzig. Geboren wurde ich im Jahr 1973, dem Summer of Love and Peace der DDR. Ich sprang mit meiner Trägerin auf den X. Welt­festspielen der Jugend herum und tanzte mit ihr zum damals revolutionären Sound von Puhdys & Co.

An meinem Anfang stand ein Baumwoll-Synthetik-Stoff aus dem VEB Textilkombinat Cottbus und ein Schnittbogen aus der »Vogue des Ostens«, der DDR-Mode- und Kulturzeitschrift Sibylle. Glücklicherweise gab die Zeitschrift einige gute Tipps, wie man den raffiniert-praktischen Schnitt »Tramper«-mäßig aufpeppen konnte. So kam die Borte ins Spiel, die sie von einer französischen Brieffreundin, einem Mitglied der Lyoner Sektion der Jeunes comunistes, geschickt bekommen hatte. Behaftet mit den Erinnerungen an die Aufbruchstimmung meiner Entstehungszeit, begleitete ich sie viele Jahre zu hitzigen Debatten in literarischen und politischen Zirkeln und zu legendären Konzerten in Berlin. Selbst als sie nach der Geburt ihres zweiten Sohnes aus mir herauswuchs, konnte sie sich nicht von mir trennen. Sie räumte mir einen Ehrenplatz in ihrem Kleiderschrank ein und ließ immer wieder liebevoll ihren Blick über mich gleiten. Erst als sie 2010 die Gentrifizierung aus ihrer Altbauwohnung am Prenzlauer Berg vertrieb, hat sie mich schweren Herzens am Flohmarkt Mauerpark vertickert. So gelangte ich ins Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« und wurde dort von Anne WACHGEKÜSST


1970er • Der Fischer vom Grundlsee

ICH WAR EINMAL … eine beige Herrenhose aus den Siebzigerjahren, getragen wurde ich von einem älteren Herrn, einem Fischer aus Grundlsee, der ein leidenschaftlicher Zitherspieler war. Jede Woche trafen sich mehrere Männer in seinem Holzhaus und spielten stundenlang auf, der Zigarettenrauch durchzog in dicken Schwaden die Räume, und der Geruch nistete sich in all meinen Fasern ein, ich wurde richtig süchtig danach. Seine Frau hasste mich.

Angeblich wegen des Zigarettengestanks, aber ich glaube, sie war eher eifersüchtig auf die »fröhlichen Herrenrunden«. Er aber ließ sich nicht beirren, trug mich die ganze Zeit, auch gegen die Morgenkälte, wenn er auf dem See seine Netze auswarf. Mir haben all diese Strapazen nichts ausgemacht, schließlich bestand ich aus Schurwolle mit einem Schuss Polyester und war vom hochangesehenen Dorfschneider persönlich angemessen und nach allen Regeln der Kunst genäht worden. Irgendwann hatte die Frau meines Trägers genug von mir. Sie hat mich heimlich in einen Müllsack gesteckt und beim Dorfpfarrer abgegeben, angeblich wegen einer Hilfsaktion für Afrika. Gelandet bin ich allerdings auf einem Flohmarkt in Wien. Dort hat mich Judith gefunden und im Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« WACHGEKÜSST


1970er • Die wilden Siebziger

ICH WAR EINMAL … ein cooler, fliederfarbener Fransenpulli, Geburtsdatum: Juni 1974, Geburtsort: unbekannt. Meine Trägerin war eine 17-jährige Schülerin, die von einem kleinen Auftritt im Musical HAIR träumte. Umso größer war ihre Freude, als sie mich zusammen mit einer Abba-Platte unter dem Weihnachtsbaum fand. Sie wollte mich gar nicht mehr ausziehen und schlief sogar die erste Nacht in mir.

Kein Wunder: Ich war eine Woll-Polyestermischung, absolut in! Es folgten viele durchtanzte Disconächte, die Fransen flogen nur so nach den Klängen von Abba und Supertramp. Geschwitzt hat sie ganz schön, die Arme, aber dafür hat sie auch neidische Blicke geerntet. Jahrelang war ich bei wichtigen Ereignissen in ihrem Leben mit dabei, die ersten Demos, Rendevous, Autostops nach Italien (da ging was ab, einmal riss mir ein Verrückter ein paar Fransen aus!), von einer WG in die nächste … Irgendwann mal hat mich eine »WG Besucherin« geklaut und nach Berlin entführt, einmal ausgeführt und rein in die Mottenkiste! Dort bin ich dann 30 Jahre gelegen, bis mich ihre Tochter entdeckte und, da ich ja dank des Polyesters von den Motten nicht angeknabbert war, mit gutem Gewinn am Trödelmarkt an Sandra verkaufte. Die hat mich dann in diesem Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« WACHGEKÜSST


1970er • Lohnveredelungsland

ICH WAR EINMAL … eine graue Strickjacke aus den späten Siebzigerjahren, in einer Textilfabrik in Landsberg (Polen) auf einer Strickmaschine gefertigt. Polen war damals ein sehr hoch im Kurs stehendes »Lohnveredelungsland«. Warum man diese Länder so nennt, habe ich nie verstanden, die Textilarbeiterinnen haben ja kaum was verdient. Aber man muss ja auch nicht alles verstehen.

Getragen hat mich eine sehr reisefreudige Rentnerin aus Feldkirchen, die letzten fünf Jahre habe ich viel von der Welt gesehen, mit dem Kärntner Pensionistenverein, dessen Mitglied sie war, ist sie von Mallorca bis St. Petersburg gekommen. Eines Tages bin ich unglücklicherweise im Bus unter den Sitz gerutscht. Das Reinigungspersonal hat mich nach einigen Tagen gefunden und bei der Caritas abgegeben, dort hat mich Lisa erstanden und im Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« WACHGEKÜSST


1970er • Wieder Feuer im Kontaktofen

ICH WAR EINMAL … ein flotter Rauledermantel aus den frühen Siebzigerjahren. Meine Trägerin, ein leicht verrücktes Hippiemädchen, voll auf Pink Floyd, ist immer in einem Klub namens »Kontaktofen« rumgehangen, dort habe ich auch meine ersten Rotweinflecken abgekriegt, die nie wieder entfernt wurden.

Na ja, dabei wurde ich mit großer Liebe von einem Wiener Schneider gefertigt, 30 Stunden ist er an mir gesessen, jedes einzelne Knopfloch hat er mit der Hand genäht. Das Hippiemädchen wurde dann irgendwann mal erwachsen und hat mich in einer Ecke ihres Abstellkellers vergessen. Bei einer Entrümpelung wurde ich schließlich in einem Trödelladen abgeladen, dort hat mich Esther entdeckt und im Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« WACHGEKÜSST


1980er • Der Rest vom Volksaltar

ICH WAR EINMAL … der übrig gebliebene Rest eines von einem Künstler gestalteten handgewebten Stoffes für den Volksaltar des Doms zu Gurk. Der Künstler ließ mich für seine Freundin zu einem Kaftan verarbeiten, der ihr allerdings nicht gefiel und so landete ich alsbald in einer Holztruhe.

Dort verbrachte ich wohleingemottet die letzten 25 Jahre mit einer Reihe von Kollegen, die ebenfalls keinen Platz im Leben meiner Trägerin hatten. Vor einem Jahr erinnerte sich die Freundin, nun Ehefrau des Künstlers, meiner und schickte mich ins Veränderungsatelier ‪»‎Bis es mir vom Leibe fällt«‬ mit dem Auftrag, mich für den zeitgenössischen Alltag fitzumachen. In dem Atelier hat man mich mit einem aus den 60er Jahren stammenden, aber junggeblieben Wollserge zusammengeführt und WACHGEKÜSST. Eh voilà, hier bin ich nun. Zu jeder Schandtat bereit.


1980er • Eine peinliche Vergangenheit

ICH WAR EINMAL … ein blitzblaues Herrensakko aus den 1980er Jahren. Mein Erzeuger ist, wie ich gestehen muss, die Firma »Hugo Boss«. Es ist mir ziemlich unangenehm, aber wie ich gehört habe, hat mein Erzeuger in den Dreißigerjahren die Uniformen für die SA, SS und die Wehrmacht produziert und während des 2. Weltkriegs sogar mit Hilfe von Zwangsarbeitern. Wirklich unangenehm!

Mein Träger, der mich 1985 rund um den Börsengang der Firma erwarb, hatte von dieser Vergangenheit natürlich keine Ahnung. Und sie hätte ihn auch weiter nicht gestört. Er war ein junger, ehrgeiziger Yuppie, der mich hauptsächlich in Schöneberger Neonbars ausführte (mir zittert heute noch jede Faser bei den Klängen von »Sade«) und mit meinem Ärmel die Koksreste vom Tisch wischte. Tja, und nach einer durchfeierten Nacht ließ er mich in einer solchen Bar dann einfach hängen. Der Wirt steckte mich in den Schrank zu dem ganzen anderen Strandgut, das sich bei ihm angesammelt hatte. Nach der Wende geriet ich im Zuge eines Umbaus in die Hände eines Eighties-Sammlers. Dort wurde meine Geduld auf eine harte Probe gestellt, da sich das erhoffte Revival immer weiter verzögerte. Neue Hoffnung schöpfte ich erst, als der Yuppieismus endlich China erreichte und mein Erzeuger dort zu einer echten Edelmarke aufstieg. 2011 wurde ich schließlich in einem Vintage-Forum ersteigert, landete aber nicht wie erhofft auf einem erfolgreichen chinesischen Jungmännerkörper, sondern wurde im Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« umgeschult und als eine Art Cocktailkleid … WACHGEKÜSST


1980er • Endlich ein Leben!

ICH WAR EINMAL ein rot-schwarzweiß kariertes Herrensakko, erzeugt in einer Nähfabrik in Prato, noch bevor die Chinesen dort ans Ruder kamen. An meiner Erzeugung beteiligt war die Textilabteilung einer großen deutschen Warenhauskette mit ihrer Fantasie von italienischer Unbeschwertheit.

Beäugt und betätschelt von zahlreichen Schaulustigen, die sich letztlich doch nicht für mich erwärmen konnten, hing ich dann eine ganze Saison lang in einer Filiale der Kette in Osnabrück herum. Zum Schlussverkauf fiel ich endlich der Gattineines Sparkassendirektors ins Auge, die sich ihren Mann manchmal etwas kecker gekleidet vorstellte. Doch der konnte sich beim besten Willen nicht dazu durchringen, mich zu tragen, nicht einmal in seiner Freizeit, in der er sich als Obmann eines Tennisvereins engagierte. So hing ich als unerfüllte Wunschvorstellung viele weitere Jahre ganz hinten in einer wohlsortierten Garderobe voller neutraler, dunkler Anzüge. Eines Tages aber kam ich dann doch noch zum Einsatz: als Kostüm in einer Schulaufführung von »Death of a Salesman «, in der der ältere Sohn des Paares den Willy Loman gab.Von da an gings nur noch bergab. Nach der einmaligen Aufführung landete ich über etliche Zwischenstationen in einem Sozialkaufhaus der Diakonie. Da dort alle nur Augen für das grässliche Outdoorzeug hatten, wurde ich am Ende an eine Mitarbeiterin von »Bis es mir vom Leibe fällt« verscherbelt, die etwas von WACHKÜSSEN faselte– und das dann auch tat. So erwachte ich als Fahrradweste wieder. Nicht gerade mein Traum von Wachküssen, aber immerhin habe ich nun ein Leben und genieße eine gewisse Aufmerksamkeit.


1990er • Der Rock in der Tasche

ICH WAR EINMAL… ein blauer Faltenrock aus dem Hause H. Spängler in Kirchzarten. Der Ehrgeiz meines Erzeugers war es, ein praktisches und bürotaugliches Kleidungsstück zu kreieren, das in jede Frauenhandtasche passt.

Berauscht von seiner patenten Idee und angeturnt von der Logomania der 90er-Jahre, erfand er auch gleich ein schickes Label für mich, und ließ es als Trademark registrieren. So kam ich zu meinem Namen »Der Rock in der Tasche«.Zusammen mit etlichen Kollegen reiste ich im Firmenkombi eines Vertreters landauf und landab. In jeder Boutique, die er besuchte, schwärmte er von meiner unglaublichen Verwandlungs- und Anpassungsfähigkeit. Meine künftige Besitzerin war von der Möglichkeit, meine Falten am Gürtelband zusammenzuschieben und jeder Taille anpassen zu können, so begeistert, dass sie gleich hundert Exemplare bestellte. Doch so sehr ich mich auch bemühte, mich den Kundinnen von meiner besten Seite zu präsentieren, keine wollte mich haben. Ich war ihnen einfach nicht modisch genug und mochte ich noch so praktisch sein. Dauernd musste ich mich beleidigen lassen, ich wäre nicht stylisch genug, meine Länge wäre »omamäßig« oder meine Knöpfe zu spießig. Auch meine Besitzerin verließ schließlich der Glaube an mich und sie steckte mich zusammen mit vielen anderen Kollegen in einen Karton. So verbrachten wir die nächsten neunzehn Jahre in einem Lagerraum. Erst beim Ausräumen ihres Geschäfts fand sie uns wieder. Sie zeigte uns ihrer Nichte, die zu dieser Zeit im Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« arbeitete, in der Hoffnung, dass die unserem Leben vielleiht doch noch einen Sinn geben könnten. So wurde ich vom »Rock in der Tasche« zur »Tasche aus dem Rock«.


1990er • Aus Only wurde Einzigartig

ICH WAR EINMAL … ein Strickpulli von Only. Leider verschweigt mir die Firma den Geburtsort bis heute, ich denke der ist irgendwo in Bangladesh. Ich bin eine Wolle-Baumwollmischung, bin viel gereist, auf großen Frachtschiffen, tausende Kilometer, gesehen hab ich nichts von der Welt in dem finsteren Container.

Gewärmt habe ich eine strenge Frau vom Finanzamt, die wurde ganz kuschelig in mir. Sie hat mich dann aber der Caritas geschenkt, die mich wiederum an Humana verkaufte und so hat mich Caterina entdeckt und mich in dem Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« WACHGEKÜSST


1990er • Das außerirdische Blau von JPG

ICH WAR EINMAL … ein Jeansanzug – oh Gott, ich rede ja schon wie meine sogenannten „Upcycler“! – ich meinte natürlich ein Denim-Ensemble von Jean Paul Gaultier aus den 1990er Jahren. In mein außeririsches tiefes Blau waren gespensterhafte, weiße Gesichter eingewebt, ein genialer Entwurf vom Meister selbst. Meine Trägerin war eine ehemalige Punksängerin, die sich nun als Ehefrau eines Musikmanagers versuchte.

Sie kombinierte mich gerne mit hohen Plateauschuhen und Rüschenblusen, und hing in mir nächtelang im Ex’n’Pop, in der Gesellschaft von Nick Cave, Ben Becker und Co. herum. Ach, was waren das für Zeiten, als man sich am Tresen berauscht in den Armen lag, aneinander rumzerrte und sich gegenseitig abklopfte. Ich liebte diese Situationen, mein dicht gewebtes Spezialmaterial war wie dafür geschaffen. Dann, einige Jahre später sank der Stern meiner Trägerin – und der Coolnessfaktor von J.P. Gaultier (man stelle sich vor: er entwarf im Jahr 2010 eine Billigkollektion für einen amerikanischen Discounter!). Der Musikmanager ging pleite, und meine Trägerin setzte mich aus Geldnot auf ebay Kleinanzeigen und verschacherte mich für eine lächerliche Summe an das Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt«! Die hatten doch glatt die Frechheit in mich hineinzuschneiden und meine Filetstücke mit ordinären Jeanshosen zu mixen! Tja, und das nennen sie auch noch WACHKÜSSEN!


1990er • Die große Enttäuschung

ICH WAR EINMAL … ein rot-schwarz gemustertes Seidentuch aus den frühen Neunzigerjahren. Meinen Erzeuger kenne ich nicht. Groß geworden bin ich im Versandhaus Heine, welches als erstes deutsches Versandunternehmen einen Kundenclub gründete, der unter dem Motto »Immer etwas Besonderes erleben« faszinierende Traumreisen, exklusive Happenings und andere Vergnügungen versprach.

Meine Besitzerin, eine alleinstehende Frau, die als Büglerin in einer chemischen Reinigung arbeitete, war eines der ersten Clubmitglieder.Auf einer dieser »Traumreisen« nach Italien, wurde ich von ihr bei einer Werbeveranstaltung erstanden und immer mit viel Liebe und wunderschönen Erinnerungen an das Mittelmeer getragen. Sie hat sehr gerne Heiratsannoncen studiert und sich öfters mit potentiellen »Interessenten« getroffen. Eines dieser Treffenmuss für sie besonders schmerzhaft gewesen sein, denn sie hat mich beim Verlassen des Lokals einfach liegen lassen.Der Kellner hat mich dann noch ein Jahr als keckes Halstuch getragen, mich aber schließlich ebenfalls abgelegt. Viele Jahre später wurde ich dann von Maria in einem Second-Hand- Shop aufgespürt und im Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« liebevoll WACHGEKÜSST und zum Kleid hochgeschneidert.


1990er • Häckelbluse

ICH WAR EINMAL … eine Häckelbluse in L der deutschen Textilkette Erstings Familiy GmbH (Gina Benotti). Gekauft hat mich eine flotte Rentnerin, die mich für ihre vielen Fernreisen, bevorzugt in den ostasiatischen Raum, haben wollte. Erinnern kann ich mich an den eisigen Winter in Litauen und an eine riesige Fabrikhalle in China.

Vorher stand ich als Baumwolle auf weiten texanischen Feldern und schluckte Unmengen an Wasser und US-Landwirtschaftssubventionen. Die Schülerin Anke aus Coesfeld hat mich bei ihrer ersten Party getragen, später als Studentin aber am Flohmarkt am Anconaplatz verkauft. Dort wurde ich von Lisa erworben und später in ihrem Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« WACHGEKÜSST


2000er • Am Panjiayuan Flohmarkt in Peking

ICH WAR EINMAL … ein gelb kariertes Männerhemd und ein Trachtenrock aus China. Der eine Teil von mir gehörte dem Fachdisponenten einer Zeitarbeitsfirma. Der hat mich ganz schön durchgeschwitzt, bei all dem Fingerspitzengefühl, das er in diesem Job braucht. Ist ja auch nicht so einfach, die Kundenbedürfnisse mit der Qualifikation der Bewerber zusammenzubringen! Ich war ziemlich bald am Ende und wurde von seiner Frau in einen Altkleidercontainer geworfen. Von dort hat mich dann Katrin rausgefischt…

Der andere Teil, gehörte der 15-jährigen Baoquin, die mich, nachdem sie einen Guerilla-Kämpfer aus der Truppe Maos kennenlernte, am Dachboden versteckte. Ihre Enkelin entdeckte mich am Ende der Kulturrevolution und verkaufte mich auf einem Pekinger Markt an eine Wiener Designerin. Diese hat mich dann in das Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« gebracht. Dort hat uns Katrin miteinander vermählt und WACHGEKÜSST


2000er • Aus der Trickkiste der Werber

ICH WAR EINMAL … eine rote Bluse mit schwarzem Blumenmuster, produziert von einer etwas zwielichtigen Firma, deren Namen mir entfallen ist. Erzeugt wurde ich vermutlich auf dem indischen Subkontinent. Ich bin nämlich viel gereist, war auf großen Frachtschiffen unterwegs, tausende Kilometer, wenngleich ich nicht viel gesehen habe von der Welt – in dem finsteren Container.

Meine Trägerin war eine schnittige Mittzwanzigerin, die gerade ihre ersten Gehversuche in der Werbebranche unternahm. Da sie gut aussah, wurde sie abends gerne zum vergnüglichen Teil der Kundenkontakte mitgenommen, bei dem ich sie mit meiner Viskose- Kunstfasermischung so richtig zum Glänzen brachte. So erlebte ich einige spannende Abende und lernte einige interessante Winkelzüge aus der Trickkiste der Werber kennen. Dann gab es einen Abend, der aus dem Ruder lief… Von da an hatte sie keinen Bedarf mehr an vergnüglichen Kundenkontakten und verlor alsbald auch ihren Job in der Werbeagentur. Um sich neu zu erfinden, musste sie sich von mir trennen und warf mich zusammen mit etlichen Artgenossen in den nächsten Rotkreuz- Container, nicht ahnend, dass wir uns Jahre später in einem Second-Hand-Shop wiedersehen würden. Spontan beschloss sie, mich in ihr neues Leben als Sängerin aufzunehmen, und brachte mich ins Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt«, um mich für die neue Rolle WACHKÜSSEN zu lassen.


2000er • Befreit aus der Gefangenschaft

ICH WAR EINMAL … ein rosaroter Strickpullover aus feinster tasmanischer Wolle. Die Schafe, die mir ihr Fell spendeten, haben mächtig Glück gehabt, sie waren auf einem der unberührtesten Flecken der Erde geboren und atmeten die beste Luft und tranken das frischeste Wasser. Ich bin auch mächtig stolz darauf, dass meine Wolle ganz wenig Chemie abgekriegt hat, dank der hohen Umweltauflagen in Tasmanien.

Das Haus Peter Hahn, ein Spezialhandels-unternehmen aus dem Schwabenland, hat mich nach Deutschland gebracht und direkt ins Haus meiner Trägerin geschickt. Sie war eine wunderschöne Frau, wie habe ich mich gefreut bei ihrem Anblick, habe mich schon an ihrem wunderschönen Körper glänzen sehen… aber welche Enttäuschung! Sie war kaufsüchtig und hat mich nicht einmal anprobiert, ich wurde samt Verpackung und Preisschild in einem großen, begehbaren Kleiderschrank abgelegt und habe dort, stramm geordnet, mit vielen anderen Kollegen, einige Jahre im Dunklen verbracht. Dort tuschelte man auch, dass das Haus Peter Hahn von Arcandor einverleibt wurde. Die sind jetzt übrigens auch pleite! Ihre Tochter, eine engagierte Konsumkritikerin, hat mich schließlich aus der Gefangenschaft befreit. Sie hat mich zu »Bis es mir vom Leibe fällt« gebracht und dort wurde ich endlich WACHGEKÜSST


2000er • Die bösen Motten

ICH WAR EINMAL … ein braunes Strickleid im Besitz einer sehr engagierten Lehrerin, die sich um Kinder von AsylbewerberInnen gekümmert hat. Im Laufe der Jahre haben deren Schicksale so an ihren Nerven gezehrt, dass sie einen Therapeuten aufsuchen musste. In seinem Warteraum hat sie in einem Katalog der Firma »Hess Natur« ein Foto von mir entdeckt und sich sofort in mich verliebt. Auch die Philosophie der Firma hat ihr gut gefallen und so schmiegte ich mich schon eine Woche später um ihren weichen, wohlriechenden Körper.

Geboren wurde ich in Portugal. Die Schafe, die meine Wolle lieferten, grasten direkt vor der Haustür. Mein Erzeuger wurde als erstes deutsches Unternehmen Mitglied der Fair Wear Foundation und hat etliche Awards für fairen Handel und Nachhaltigkeit eingeheimst. Kurzum: Ich wurde absolut giftfrei und ethisch korrekt produziert. Allerdings könnte es sein, dass ich eine der letzten meiner Sorte bin, weil mein Erzeuger ins Visier einer amerikanischen Private-Equity Gesellschaft geraten ist. Noch gibt es zwar Widerstand in der Belegschaft, die das Unternehmen zusammen mit ein paar engagierten Fans kaufen will, aber wer weiß, wie lange noch. Zu allem Überdruss haben letzten Winter auch die Motten meine überragende Qualität entdeckt und sich einige Filetstücke von mir einverleibt. Doch meine Besitzerin wollte nicht, dass es so mit mir zu Ende geht, und hat mich an das Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« verschenkt. Dort wurde ich von Lisa noch einmal WACHGEKÜSST


2000er • Gratis Massage

ICH WAR EINMAL … ein grau-weiß gestreiftes T-Shirt der Firma »American Apparel«. Geboren wurde ich im Jahr 2006 in der Innenstadt von Los Angeles. Es war das goldene Zeitalter meines Mutterbetriebs. Meine Erzeugerin war eine (illegale) Immigrantin aus Mexiko. Für den schönen Lohn von 12 US-Dollar die Stunde, nebst Gesundheitsvorsorge, täglichen gratis Massagen, freien Firmenfahrrädern und kostenlosen Ferngesprächen setzte sie neben mir noch zahllose Geschwister in die Welt.

Meine Trägerin, eine junge Künstlerin und Umweltaktivistin, war von dem Unternehmen von Anfang an total begeistert und hat mich rund um die Uhr auf ihrem Körper spüren wollen. Sie konnte gar nicht genug von mir und meinesgleichen kriegen, fühlte sich unwahrscheinlich sexy in uns und nahm uns überall hin mit. Es war ein herrliches Leben, das dann aber leider ein abruptes Ende fand, weil Dov Charney, unser Stammvater das mit dem Sexappeal seines Unternehmens irgendwie missverstanden hatte. Als 2008 das Gerücht aufkam, Dov habe Mitarbeiterinnen sexuell belästigt und während eines Interviews vor einer Reporterin masturbiert, wollte meine Trägerin plötzlich nichts mehr von mir wissen und hat mich mit all ihren anderen AA-Klamotten in eine Mülltüte gepackt und in einen Altkleidercontainer geworfen.
Ich wurde quasi in Sippenhaft genommen und musste ein paar stockfinstere Jahre in den hintersten Verliesen der Altkleiderwelt abbüßen. Aber schließlich hat sich Esther meiner erbarmt, mich befreit und in das Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« mit einer rosa Druckfarbe WACHGEKÜSST


2000er • Im Zeltlager der Occupybewegung

ICH WAR EINMAL … ein dicker, roter Strickpulli, kurzeitig im Besitz eines jungen Politologiestudenten, der sich in der Occupybewegung engagierte und mich gut beim Leben auf der Straße gebrauchen konnte. Endlich kam etwas Aufregung in mein Leben, ich wurde ja die letzten zehn Jahre von seinem Vater nur hin und wieder für den Schiurlaub aus dem Schrank geholt. Erzeugt hat mich irgendein Lizenzpartner der Esprit Holding. Wo er das getan hat, weiß ich nicht.

Nicht einmal mein neuer Träger konnte das herausfinden, dafür ist er aber auf die interessante Gründergeschichte der Holding gestoßen. Sie begann 1968, als Susie und Doug Tompkins mit einem Kombi durch Kalifornien tingelten und selbstgenähte Kleidungsstückevertickten. Schon ab Mitte der 1970er-Jahre wuchs die Firma zu einem großen Konzern heran, deren Anteile Doug 1990 gewinnbringend verkaufte, um sich einen Namen als Ökounternehmer und Umweltaktivist zu machen. Er erwarb nicht nur riesige Gebiete in Patagonien, die er in Naturparks umwandelte, sondern ist auch wichtiger Unterstützer von Adbusters, die als Vorreiter der Occupybewegung gelten. Was meinen Träger sehr begeisterte und ihn trotz allem für mich einnahm. Leider hat sich bei einer seiner Aktionen ein Stück Zaun in meine Wolle gebohrt und eine tiefe Wunde gerissen. Da hat mich mein Träger ins Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibefällt« gebracht, weil er fand, dass ich es wert sei, wieder WACHGEKÜSST zu werden.


2000er • Rotweindusche

ICH WAR EINMAL … ein Männerhemd an einem sehr erfolgreichen Broker. Wir haben zusammen viele Tage und Nächte gearbeitet und gefeiert. Die kurzen Zeiten dazwischen verbrachte ich meist in einer Reinigung, ich war so oft dort, dass ich meine komplette Ausrüstung verloren habe, aber er hat mich eben sehr geliebt, auch noch als ich schon etwas abgewetzt war.

Leider hatte er für seine Freundin sehr wenig Zeit, harter Job eben! Die hat ihm dann in einem Wutanfall ein Gas Rotwein über den Kopf gekippt, da konnte auch keine Reinigung mehr helfen. Als die Freundin auszog, hat sie mich als Trophäe mitgehen lassen und in das Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« gebracht. Dort hat mich Katrin mit viel Liebe WACHGEKÜSST


2000er • Seltsame Albträume

ICH WAR EINMAL … ein dunkelblaues Herrensakko, mein eingenähtes Label erzählt mir, ich sei in Italien erzeugt worden, doch werde ich von Zeit zu Zeit von seltsamen Albträumen heimgesucht. Ich bekomme immer mehr so eine Ahnung, dass mein wahrer Geburtsort irgendwo in Asien liegt, denn in meinen Träumen ist es schwül, ich höre Schreie, Rauch steigt auf, Panik liegt in der Luft.

Wie auch immer, gekauft hat mich ein Reiseschriftsteller, der in mir seine zahlreichen Vortragsabende bestritt. Er hängte mich immer ganz vorsichtig auf die Rückenlehne seines Stuhls und entführte mich in viele Länder der Erde. Ich lernte die unterschiedlichsten Sitten und Gebräuche kennen, tauchte ein in die abgefahrensten Tier- und Pflanzenwelten, nahm teil an Abenteuern, die ich in meiner schlichten Art sonst wohl nie erlebt hätte. Warum er gerade mich für seine Auftritte wählte und so eisern an mir festhielt, war mir eigentlich immer ein Rätsel. Weiß er mehr über mich als ich selbst? Warum sonst hätte er mich immer weitertragen sollen, auch als ihm schon längst zu klein geworden war und drohte, ihn zum Gespött zu machen? Als er es endlich selber bemerkte und mich schon weggeben wollte, hörte er gottlob vom Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt«. Dort hat man mich nicht nur erweitert und meine Nähte repariert, sondern mich gänzlich rundüberholt oder WACHGEKÜSST, wie die das nennen. Seither begleite ich meinen Träger nicht mehr bloß auf Lesungen.


2000er • So bin ich (wieder)

ICH WAR EINMAL … eine übergroße Damenhose einer bedeutenden deutschen Textilkette, die mir einen ganz süßen Labelnamen verpasst hat »SO BIN ICH«. Hat nichts genützt. Die Menschen haben mich trotzdem oft leicht verächtlich angesehen, obwohl meine Besitzerin eine sehr stolze Frau war, die das Leben in vollen Zügen genoss. Produziert wurde ich, raten Sie mal?

In China, genauer gesagt, in einer Kleiderfabrik in Guangzhou. Ich weiß sogar den Namen meiner Näherin; sie heißt Liu Xia, ist 30 Jahre alt, arbeitet von Montag bis Samstag von 8-22 Uhr und verdient 95 Euro im Monat. War etwas geschockt, wenn ich an meine Hamburger Trägerin dachte. Diese hat mich nach 3 Monaten satt gekriegt und in die Altkleidersammlung gesteckt. Dort haben mich zwei Mädchen entdeckt und jede von den beiden hat sich in ein Hosenbein hineingezwängt, hatten die einen Spaß! Judith hat mich dann mitgenommen und in dem Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« WACHGEKÜSST


2000er • Was man aus Deutschland machen kann

ICH WAR EINMAL … ein schwarz-rot-goldener (gelber) Fanschal, entstanden auf dem hochmodernen Jacquard-Webstuhl einer Fanschalfirma in Süddeutschland. Keine Sonderanfertigung, sondern eines der vielen zehntausend Standardstücke, die im Sommer 2006 zur Fußball-WM in Deutschland erzeugt wurden.

In diesem Sommer gelangte ich auch in den Besitz eines Laboranten von der Charité in Berlin, der sich eigentlich gar nicht für Fußball interessierte. Lautstarke Massenveranstaltungen und das Gebrülle der Fans ängstigten ihn eher, es erinnerte ihn zu sehr an die dunkle Seite Deutschlands. Er traf sich lieber mit Freunden in kleinen, gemütlichen Lokalen und diskutierte über die neuesten Fortschritte in der AIDS-Forschung. Doch während des berühmten »Sommermärchens« konnte auch er sich der Begeisterung nicht entziehen. Hineingezogen in den Taumel, kaufte er mich auf der Fanmeile und konnte es selbst nicht glauben, dass er ganze drei Wochen mit mir herumlief. Danach allerdings legte er mich in seinen Schrank und holte mich nur noch zum Argentinienspiel während der WM 2010 heraus. Als vor einem halben Jahr die Freundin bei ihm einzog, musste ich endgültig weichen, die Erinnerung an das Sommermärchen war ohnehin verblasst. So kam ich sozusagen von der Charité zur Caritas. Dort hat mich schließlich Lisa aufgestöbert und im Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« WACHGEKÜSST


2010er • Bacardi-Feeling in Dubai

ICH WAR EINMAL … eine knallgelbe Cordhose, erzeugt von der Firma Harmont & Blaine, die in den 1990ern in Capri, auf dem Gipfel des Luxus- und Barcadi-Feelings, gegründet wurde. Sie wissen schon, die Firma mit dem Logo-Dackel, der mitunter grüne Plexiglaslachen pinkelt. Was man nicht alles an Marketingideen ertragen muss!

Gekauft wurde ich in einem Luxustempel in Dubai von einem »Troubleshooter« aus London, einem Mann mittleren Alters, der meist auf den Plan tritt, wenn es Zoff mit sogenannten »human resources« gibt. Er war von einem großen Architekturbüro in die Retortenstadt gerufen worden. Hat sich wohl gedacht, dass meine knallige Farbe die Stresssituation auflockern würde, aber die Architekten haben ihn nicht ernst genommen. Da hat er mich frustriert am Strand einem jungen Berliner überlassen, dem war gerade der Rucksack gestohlen worden. Ja, und dann erlebte ich einige lustige Partytage mit allem Drum und Dran, was so ein internationales Drehkreuz zu bieten hat. Er nahm mich sogar mal mit zum Skifahren, mitten in der Wüste! Krass! Zurück in Berlin hat er mich dann ins Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« gebracht (hatte keine Lust mehr auf mein Gelb). Glücklicherweise hat sich Esther sofort in die Farbe verliebt und mich aufgeregt WACHGEKÜSST


2010er • Im Club K17

ICH WAR EINMAL … ein ärmelloses T-Shirt, hing lieblos am Bügel im Store einer mächtigen Textilkette und wurde nach kurzer Zeit von einem Gothic Girl geschnappt, auf den Verkaufstresen geworfen und gleich am selben Abend in den angesagten Club K17 in Berlin ausgeführt.

Dort habe ich drei harte, durchfeierte Nächte hinter mich gebracht, Mitternachtsfeuer und so. War ganz schön fertig danach, wenn man bedenkt, was ich vorher schon durchgemacht habe. Produziert wurde ich in Katunayake in Sri Lanka, meine Näherin war nach 12-14 Stunden Arbeit pro Tag so erschöpft, dass sie nicht einmal mehr schwanger werden konnte, da hat sie auch schon etliche Tränen auf mir gelassen. Am Ende wurde ich von meiner Trägerin in einer WG in Neukölln vergessen, dann aber gottseidank von Sarah gefunden und in dem Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« WACHGEKÜSST


2010er • Referendar auf dem Weg nach oben

ICH WAR EINMAL … ein blau-weiß gestreiftes Businesshemd der Firma Ahlemeyer, ein deutsches Unternehmen mit Sitz in Bad Vilbel, das großen Wert auf Qualität (100% gekämmte Baumwolle nach Öko Tex Standard 100) und soziale Standards (keine Kinderarbeit) legt. Der günstige Preis von Euro 29,90 muss etwas mit dem Umstand zu tun haben, dass ich nach meiner Zeugung für längere Zeit in einem großen, dunklen Schiffscontainer lag, eingehüllt in Plastik, und fast keine Luft bekam.

Gekauft hat mich eine hübsche blonde Anwaltsgattin für ihren Mann, der Private-Equity-Firmen legale Anstriche verpasst. Klar, dass er dafür jeden Tag ein neues Hemd braucht (schwitz, schwitz). Tja, und so bin ich dann ziemlich schnell auf einer Charity-Veranstaltung gelandet (die Gattin betätigt sich selbstverständlich ehrenamtlich), wo mich ein Referendar gekauft hat. Mit ihm habe ich viele Gesetzbücher nach Schlupflöchern durchforstet, was ihn aber auch nicht weiterbrachte. Er ist immer noch Referendar, und ich stand am Ende mit durchgescheuerten Ellebogen da. Seine Freundin hat im Radio vom Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« gehört und mich dort abgegeben, um mir ein zweites Leben zu schenken. Judith hat mich dann mit viel Esprit WACHGEKÜSST.


2012er • Schwierige Familienverhältnisse

ICH WAR EINMAL … ein grauer Kapuzenpulli aus der Viking Kollektion von »Thor Steinar«, einer Streetwear-Marke, deren Träger vorwiegend – hm, wie soll ich das nennen, ohne meinen Ahnen zu nahe zu treten? – Fußballanhänger sind, die es gern etwas handfester haben, oder Nordic Soul Fans mit einer Vorliebe für Runen, Kreuze und Frakturschrift.

Sie mochten einfach das branding, mit dem meine Erzeuger mich und meinesgleichen versahen. Meine älteren Geschwister sind deswegen sogar ins Visier des Vrfassungsschutzes geraten und mit Verkaufsverbot belegt worden. Weil es angeblich ein Ausdruck von Fremdenhass sei. Dabei wurde ich in einer Fabrik in der Türkei erzeugt, und aus Biobaumwolle! Aber das hat alles nichts genutzt. Diese Sache mit dem branding hat meine Familienverhältnisse einfach ungeheuer belastet, und dann wurde ich auch noch zur Adoption freigegeben. Ich kann von Glück sagen, dass mich dieser verzweifelte Großvater im Internet aufgespürt hat. Er hielt mich für ein originelles Geburtstagsgeschenk für seinen wikingerbegeisterten 14-jährigen Enkel. Und tatsächlich machte er dem Jungen eine Riesenfreude. Der trug mich mit großer Begeisterung, bis er bemerkte, dass er damit zunehmend die Blicke komischer glatzköpfiger Männer auf sich zog. Als ihn einmal einer davon ansprach, bekam er es mit der Angst zu tun und warf mich in die nächste Mülltonne. Glücklicherweise befreite mich seine Mutter gleich am nächsten Tag daraus, weil sie mich wegen meiner praktischen Form und Stoffqualität schätzte. Sie brachte mich ins Veränderungsatelier »Bis es mir vom Leibe fällt« und beauftragte Irene, alle verdächtigen Zeichen zu entfernen. Irene vereinte mein vergangenheitsseliges branding so gekonnt mit einer ebenso gestrigen Schnulze, dass mich jetzt sogar der ältere Bruder meines Jungen sexy findet. Solches WACHKÜSSEN lasse ich mir durchaus gefallen.